Monday, January 29, 2007

ITALIENISCHER NEOREALISMUS IST WIE LEBENSURLAUB IN ITALIEN


Roma ore 11, von Giuseppe De Santis 1952 gedreht, zeigt anhand eines Ansturms von 300 Frauen auf die Stelle als Bürokraft, wie schlimm die Armut in den Fünfzigern war. - Und dennoch haben diese Menschen, wie der Film, Klasse.


Ladri di biciclette, von Vittorio De Sica 1948 gedreht, handelt von einem Arbeitslosen, dem das Fahrrad gestohlen wird - und ohne das Vehikel droht ihm, seinen neuen Job wieder zu verlieren.... Ein Kultfilm. Fotos: © Österreichisches Filmmuseum


AM ITALIENISCHEN NEOREALISMUS DER 40-er UND 50-er JAHRE SOLLTEN SICH ÖSTERREICHS "DOGMA"-FILMER EIN BEISPIEL NEHMEN; UND DER ORF AM WIENER FILMMUSEUM!

Eigenartig, wenn man "armes Kino" hört, und es in Bezug zu "Italien" stellt, überkommt einen sofort ein sonniges Gefühl: Ergreifende Schicksale tun sich vor dem geistigen Auge auf, trotz Armut dieser charaktervollen Menschen von interessanter, warmherziger Mentalität. Stellt man das "arme Kino" aber in Bezug zu "Österreich", drängen sich Bilder ungustiösen, hoffnungsverlorenen Proletariermilieus aus dem 21. Wiener Gemeindebezirk auf, wahrscheinlich gedreht von Barbara Albert oder einem anderen österreichischen "Dogma"-Filmer.

Poesie und Klasse auszustrahlen - trotz Arbeiterschicht-Realismus und kleinem Filmbudget - das können tatsächlich nur die Italiener, insbesondere die Filmer des Neorealismus, zu denen hauptsächlich Roberto Rossellini, Vittorio De Sica, Giuseppe De Santis zählen, und in ihren Anfängen auch Luchino Visconti, Federico Fellini, Michelangelo Antonioni. Sie liegt in den Darstellern, in ihren Gedanken, ihren Handlungen, sowie in den nonverbalen Zwischentönen der Filmatmosphäre. Viel zu kurz läuft daher dieser Themenschwerpunkt im Wiener Filmmuseum. Der ORF sollte sich in seiner Programmatik ein Beispiel nehmen, um endlich seiner Aufgabe als öffentlich-rechtlicher Sender gerecht zu werden, und die Filme übernehmen! Denn dann bekäme auch das österreichische Fernsehpublikum die Chance, "Geschmack" zu entwickeln.

Absolut zu empfehlen sind vorab Riso amaro von Giuseppe De Santis und Bellissima von Luchino Visconti - diese beiden Schmuckstücke waren im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu bewundern: eine insgesamt magere Ausbeute, wenn man bedenkt, wieviele von diesen grandiosen, laufenden Zeitabbildern es gibt.
Eine genauere Beschreibung nun zu folgendem Film:

ROMA ORE 11 VON GIUSEPPE DE SANTIS

Unter dem deutschen Titel Es geschah um Punkt 11 ereignet sich eine konzentrierte Massenpsychologie-Studie der Verzweiflung arbeitssuchender, junger Frauen im Jahr 1952. Auf eine Ausschreibung eines Autoherstellers hin, bewerben sich für die Stellle einer Bürokraft an die 300 bildhübsche Frauen. Sie alle sind mehr oder weniger natürlich schön - nicht so, wie man sie sich im amerikanischen Hollywoodfilm vorstellen würde. Es sind Frauen, die es bitter nötig haben zu arbeiten: Um sich, ihre Männer oder ihre Familien zu ernähren. Denn die Arbeitslosigkeit ist zu dieser Zeit (wie heute wieder) groß.

Dabei schälen sich einzelne Biografien heraus: Ein Mädchen hatte eine Stelle und wurde von seinem verheirateten Arbeitgeber unter Vormachung falscher Liebestatsachen geschwängert und fallen gelassen. Ein anderes ist mit einem Mann verheiratet, der selbst vergeblich Arbeit sucht. Ein Drittes ist eine jüngere Schwester, die sich unterwegs zu ihrem ersten Vorstellungstermin verliebt (und die später umkommt). Ein Viertes ist zu schüchtern, aber auf Druck seiner Mutter als Erste da - die Mutter sorgt auch tatkräftig italienisch dafür, dass es das bleibt. Ein Fünftes hat sein reiches Elternhaus verlassen, um jetzt seinen Künstlerfreund zu unterstützen. - Viele Schicksale also, und sie alle enden im Fall, indem die Stiege im Firmenhaus zusammen bricht, auf der sie zusammengepfercht warten. Nachdem der Firmenboss sagt, er könne nur 40 anhören, die Frauen müßten also unter sich ausmachen, wer lieber gleich wieder nach hause gehen solle, entsteht eine Massenhysterie wie man sie von Konzerten her kennt. Das Gedränge läßt das Geländer und damit die Mauern krachen.

Die Kraft des Filmes besteht darin, dass sich die Not der Armut und der Zwangslage ganz nackt ausdrückt. Die Verzweiflung liegt kalt und offen da, die die Frauen zu Mitteln greifen läßt, die ihnen unter harmonischen Bedingungen zuwider wären, schon da es ihr Anstand verbieten würde. Das schlechte Gewissen macht sich nach dem Tod des einen Mädchens breit, Angst vor Bestrafung krassiert. Und die Tatsache, dass diese Geschichte, ja, selbst einige der Darsteller, echt sind, die Katastrophe also stattgefunden hat - wie es ein Zeitungsartikel belegt - macht die Geschichte noch ergreifender. Alltagsdialoge, realistische Schauplätze, das natürliche Licht zeigen die Italiener mit all ihrer Theatralität und Gefühlstiefe, und mit all ihrem (nationalen) Stolz. - Etwas, das man in keinem österreichischen Film - außer als negative Parodie - finden kann. Und dieser Stolz dieses Volkes, den man in keinem Genre mehr herausgearbeitet hat als im italienischen Neorealismus, macht diese Filme so würdevoll und edel.

LADRI DI BICICLETTE VON VITTORIO DE SICA

Ein Klassiker, der sich um ein Kind, seinen arbeitslosen Vater und ein gestohlenes Fahrrad dreht. - Karten sind schwierig zu bekommen, unsere Reservierte war bereits fünf Minuten vor Beginn verkauft. Deshalb eine halbe Stunde vorher kommen und reservieren!

Nun, beim letzten Anlauf, hat es doch noch geklappt - obwohl der Film wieder ausverkauft war: Der Stolz einer arm gewordenen Familie, speziell des Vaters, sticht hier so hervor, dass es zu Tränen rührt. Denn der wird ihm gebrochen, indem sich die anstandslos-ungebildete, kriminelle Klasse zusammen rottet und wider Recht und Wahrheit gegen ihn aussagt. Da beginnt er selbst zu stehlen... und sein Bub sieht es, der aber alles versteht und umso stärker mit seinem Vater leidet.
Eine geniale Psychostudie, die auch an die Juden-Degradierung unter den Nazis erinnert, indem man sie all ihrer Stellung beraubte, erniedrigte und demütigte.


FILM Roberto Rossellini und der italienische Neorealismus * Ort: Filmmuseum Wien * Zeit: bis 8.2.2007
Themenschwerpunkt im März: Vincente Minnelli, Avantgarde: Film und Kubelka * link: www.filmmuseum.at

Tuesday, January 23, 2007

MIXER LOIS RENNER UND REMIXER GEORG BASELITZ - ZWEI ZEITGENOSSEN "BAROCKEN" FORMATS

Lois Renner (©) mit seiner aquarellhaft gemalten Fotografie-Barockfigur: Faun (aquarell) 2, 2006, Technik: C-print/Plexi/Dibond, 60x54cm


WENN EIN MIXER UND EIN REMIXER ETWAS GEMEINSAM HABEN, DANN IST DAS DAS GEWISSE ETWAS AN NEUHEIT, NIVEAU UN
D EINZIGARTIGKEIT: LOIS RENNER UND GEORG BASELITZ SIND EIN ALTER UND EIN NEUER ZEITGENOSSE MIT JEWEILS BAROCKER STRAHLKRAFT IM GENRE-ÜBERGRIFF.

Georg Baselitz und Lois Renner - zwei unterschiedliche Generationen in unterschiedlichem Genre? Ja, dennoch: So konkret sie inhaltlich in ihren Aussagen bei ihren Bildern sind, so nebensächlich scheint ihnen der Inhalt zu sein. In Wahrheit ist es die technische Form, um die es beiden geht. Und das Wunderbare dabei ist, dass bei Baselitz ein Ölbild neuerdings wie ein Aquarell oder eine Zeichnung, bei Renner die Fotografie wie Malerei aussieht - in beiden Fällen auf einzigartige - bei aller Modernität - kostbar und ernsthaft "barocke" Weise.

Sowohl Baselitzs als auch Renners Werke kommen erst im Angesicht richtig zur Geltung: wenn der Besucher direkt vor den Bildern steht. Dann erkennt er ihren Wert und ihre Besonderheit. Renner ist allerdings - da jünger - noch einen Schritt weiter, da er mit Fotografie und digitaler Bearbeitung medienübergreifend arbeitet, während Baselitz ausschließlich innerhalb der Malerei technikübergreifend bleibt.

REMIXER GEORG BASELITZ

Dabei benennt Baselitz (geb. 1938) aber ironischerweise seine Werkserie, die gerade in der Wiener Albertina hängt, mit dem digitalen Titel Remix. Tatsächlich hat er dabei "nur" frühere Arbeiten malerisch neu bearbeitet, um sie, wie er selbst sagt, "leichter" aussehen zu lassen und auch "schneller" zu gestalten. Baselitz: "Ich habe jahrzehntelang "schwere" Bilder gemauert: Schicht auf Schicht. Ich wollte schneller Bilder malen können, habe es aber einfach nicht zu Wege gebracht. Jetzt ist es mir gelungen, innerhalb einer Stunde Bilder zu malen! Die müssen dann leicht sein." Zu funktionieren schien es ihm endlich nach einem Besuch bei der Leipziger Schule, wonach sich Baselitz malerisch und zeichnerisch neu zu hinterfragen begann. So ist etwa der 1963-er Malskandal - das onanierende Kind mit Riesenpenis, das einen, sich auf diese Weise Aufmerksamkeit verschaffenden, Poeten darstellt - des selbstbezeichneten ewigen Außenseiters Baselitz in Die große Nacht im Eimer jetzt als "Remix" lockerer gemalt und dafür eindeutig mit einem genau gezeichneten Hitler-Bärtchen versehen.

Ebenso ging Baselitz bei weiteren Bildern seines Frühwerks vor, das er ab Ende der 60er Jahre in seinem heutigen Markenzeichen - auf dem Kopf stehend - präsentierte. - Damals wollte er damit die malerische Form, nicht den Inhalt betonen. Selbst wenn er dabei stets Selbstkritik hinsichtlich der eigenen deutschen Geschichte übte. Jetzt geht es Baselitz um eine farbenprächtigere, flächenhaft auffälligere Bildaufteilung, in aquarellhaft in Öl gemalter, lockerer Form, wobei der Inhalt aber durch subtile Details wie etwa spitz gesetzte Hackenkreuze besticht - zum Beispiel auf Knie und Hand der zwei Männer im Bild Die großen Freunde (Remix), 2006.
60 Arbeiten auf Papier - Tuschzeichnungen und Aquarelle veranschaulichen das Herantasten des Malers an diese remixten alten, neuen 28 Gemälde bzw. deren neuerliche Hinterfragung nach dem Remixen.

Das auffälligste von Georg Baselitz Remix-Werken ist sein Ausgangsbild Die große Nacht im Eimer, 1962/63, Öl auf Leinwand, 250 x 180 cm Museum Ludwig, Köln, © Georg Baselitz (Foto: Jochen Littkemann, Berlin)

Im Remix-Zustand ist Georg Baselitzs Die große Nacht im Eimer (Remix), 2005 - das onanierende Kind samt Hintergrund - leichter und farbenfroher, dafür bekam es ein Hitlerbärtchen. Öl und Kohle auf Leinwand, 300 x 250 cm, Besitz des Künstlers, © Georg Baselitz (Foto: Jochen Littkemann, Berlin)

Danach zeichnet Baselitz abermals eine Neuinterpretation, wie hier: Ohne Titel, 29. Februar 2006, Tuschfeder auf Papier, 66,4 x 50,3 cm, ALBERTINA, Wien / Dauerleihgabe der Sammlung Rheingold, © Georg Baselitz (Foto: Jochen Littkemann, Berlin)

Aquarell-Überlegung mit zeichnerischer Kombination von Georg Baselitz, Ohne Titel, 23. April 2006, Tuschfeder, Aquarell und Tusche auf Papier, 66,3 x 51,5 cm, ALBERTINA, Wien / Dauerleihgabe der Sammlung Rheingold, © Georg Baselitz (Foto: Jochen Littkemann, Berlin)


Das Aquarell in Öl übertragen: Georg Baselitz, Die großen Freunde (Remix),2006, wobei die Hackenkreuze aber spitzfindig pointiert auf Knie und Hand gesetzt sind. Öl auf Leinwand, 300 x 400 cm, Privatsammlung, Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, © Georg Baselitz (Foto: Jochen Littkemann, Berlin)

MIXER LOIS RENNER

Brachte der teuerste Baselitz bei Christie's 2006 in London (Ein Roter, 1966) 1,8 Millionen Euro ein (und dann inoffiziell noch doppelt so viel durch Weiterreichung in amerikanischen Privatbesitz, dem Hauptabsatzmarkt von Baselitz, was auch die starke Präsenz von Amerikanern während der Albertina-Eröffnung erklärte), so muß man sagen, dass objektiv gesehen, Lois Renners Arbeiten genauso viel, wenn nicht sogar, noch mehr wert sein müßten. Denn seine Technik ist noch komplexer und vielschichtiger. Auch die mediale und internationale Resonanz beweist das: So wurde der 1961 geborene Salzburger Renner anläßlich seiner bis 28. Februar 2007 in der Galerie Mario Mauroner Contemporary Art Vienna vom Art Magazine zum "Künstler des Jahres 2006" ernannt, wird er von von 15.-19.Februar 2007 auf der ARCO 07 in Madrid, und ab April im ACFNY in New York zu sehen sein. Seine jüngst geschaffenen Hybride vereinen Malerei und Fotografie und die dadurch geschaffenen Realitäten, während sie auf vollkommen neue Art und Weise die Grenzen zwischen den Medien niederreißen.

Renners eindrucksvollen Gemälde zeigen sein Atelier, allerdings auf eigentümlich surreale Weise, indem Alltagsausschnitte oder barocke Motive auftreten. Oftmals mischt er auch noch sich selbst darunter. Es geht inhaltlich daher um sein Innenleben, seine Gedanken bezüglich dieser Welt, die so vielfältig und widersprüchlich ist. Auch die Form der Umsetzung spiegelt das. “Die Fotografie verwende ich wie eine Taschenlampe, mit der ich in mein Inneres leuchte. Die Malerei entsteht aus dem, was ich bei der Suche dort gefunden habe”, beschreibt der Künstler seine Arbeitsweise. Genau genommen setzt er Fotografie, Malerei und digitale Gestaltungsmittel in Bezug zueinander, wobei die Fotografie sich die Malerei zum Vorbild nimmt, und digitale Medien diese analogen Gestaltungsmittel unterstützen und hinterfragen, während die Rolle des Bild-Künstlers hinterfragt wird. Am Ende entstehen Tafelbilder eines Maler-Bildhauer-Installationskünstler-Architekt-Fotografen.

Lois Renner(©) mit abermals direkter Barockanspielung bzw. -hinterfragung in seinem Foto-Malerei-Gemälde Venus, 2006, Technik: c-print/Plexi/Dibond, 208x180cm

Lois Renner(©) und seine plötzlich im Atelier neben sich auftretetenden Alltagserscheinungen, die in diesem Umfeld interessant deplatziert wirken, und darüber nachsinnieren lassen, ob sich dieser Künstler manchmal so fühlt: Havanna, 2006, Technik: c-print/Plexi/Dibond, 180x268cm

Lois Renners(©) Faun (aquarell) 2, 2006, wo nun der gemalte Faun in die Atelier-Installation gestellt wird. Hier hat das Bild eher Fotografie-Charakter, selbst wenn es nicht (nur) so ist. Technik: C-print/Plexi/Dibond, 60x54cm

Lois Renners(©) Öltod hoch, 2005, wo die Malerei im Vordergrund zu sein scheint. Technik: C-Print/Diasec, 225x180 cm


AUSSTELLUNG LOIS RENNER Hybride Installation – Malerei – Fotographie * Ort: Galerie Mario Mauroner Contemporary Art Vienna * Zeit: bis 27.01.2007
AUSSTELLUNG LOIS RENNER * Ort: ARCO 07 Madrid * Zeit: 15.-19.Februar 2007
AUSSTELLUNG LOIS RENNER * Ort: ACFNY New York * Zeit: April 2007

AUSSTELLUNG GEORG BASELITZ REMIX * Ort: Albertina Wien * Zeit: bis 24.4.2007